24.11.1859 Lilly Steven-Steinheil–LM

Alles schläft in süßer Ruh, und ich
benutze diese Zeit, die sonst im
traulichen Gesprächen mit meinem
lieben Freunde verbrachte jetzt dazu
und meinem unnennbaren Schmerze
durch Worte – als Trähnen Luft
zu machen, vielleicht wird mir
dann beßer zu Muthe.–.

Ach Leo – liebster Freund, wie kann
ein Tag doch alles so verändern,
gestern – obgleich die Gewißheit der
Trennung einem bevorstand konn-
te man noch aus den treuen
Augen einander Trost zusprechen
ein freundlicher Händedruck –
und man verstand sich, heute –
erblickt das trübe Auge nur
Gegenstände die einem nur zu
sehr an den lieben Entfernten
erinnern und nichts nichts ist
|2| im Stande einen zu trösten, selbst
die kleine Maiko nicht, denn
auch sie vermißt ihren lieben Oncel,
beständig läuft sie nach Ihrem Zim-
mer um Sie zu suchen und beim
Schlafengehen hat sie bitterlich geweint
als Sie nicht da waren, ihr gute
Nacht zu sagen. Doch sie ist ein
Kind und darum glücklich – denn
sie kann vergeßen; ich werde
aber stündlich an meinem bittern
Verlust errinnert nicht heute
und morgen allein – sondern für im-
mer – Sie waren mir ja ein
wahrer Freund – ein so unermüd-
licher Tröster in den vielen trüben
Stunden die wir zusammen erlebt!
und dieses soll ich entbehren – oh
ich bin außer mir – der Gedan-
cke ist mir unerträglich, und doch
muß ich es ertratillagtgen – mich darin
finden, bitten Sie Gott daß er die
Kraft mir dazu giebt, Ihre arme
verlaßene Freundin bedarf Dersel-
ben so sehr. – Doch Verzeihung
mein theurer Freund Sie sehen
|3| daß sogar die Freundschaf egoistisch
sein kann, ich dencke nur an mich
während ich, mit meinentillagt bittern Klagen mei-
nen Freund doch so sehr betrübe, ich
werde mich aber hinfort mäßigen
nur heute mußte ich mich meinen
Gefühlen hingeben das Herz war
mir zu voll und wär ich unter-
legen wenn ich mich nicht hätte
aussprechen können.–.

Danck innigen Danck für die
herzlichen Abschiedsworte die Sie
mit Ihrem Führer mir zuschickten
sie waren mir doppelt so lieb indem
sie im Siestruket im Stande waren die
so lang ersehnten Trähnen endlich
zum Ausbruch zu bringen welches
für mich eine große Erleichterung war.
Der arme Pockus wurde aufs neue
auf eine harte Probe gesetzt und
mußte ich zu der Drohung meine
Zuflucht nehmen, daß er nach Saa-
rela nicht fahren könne, wenn er
sich durchs weinen zu sehr erhitze.
Das arme Kind dauerte mich daß er schon
so früh seine reinsten Gefühle beherrschen
müße; doch gelang es ihm obgleich er
|4| nicht so vergnügt wie gewöhnlich
hinzufahren schien, er sah mich so
traurig an als hätte er sagen wollen:
”arme Mutter jetzt hast Du nieman-
den der Dich in Deinem Kummer
tröstet” er hatte wohl recht mich kann
niemand trösten als die – Zeit –
dieses wollen wir, denn Beide
hoffen liebster Freund – oh möchte
mit dem heutigen Tage ein neues
glückliches Lebstruket Jahr für Sie angehn
die Wiederwärtigkeiten des Ver-
gangenen, in Vergeßenheit gerathstruket
versincken und das wenige ange-
nehme von Ihrem hiesigen Aufent-
halte eine freundliche Errinnerung
hinterlaßen, wozu unser geschloße-
ner FreundschaftsBund gewiß das
Seinige beitragen wird. Der allgütige
Vater schencke Kraft und Gesundheit
meinem theuren Freunde sein ernstes
Unternehmen glücklich zu Ende zu führen
und darin eine Entschädigung zu finden
für die bittern Erfahrungen die Sie schon
so jung erlitten haben. Und nun gute Nacht
für heute morgen füg ich noch einige Zeilen
hinzu. Ein herzliches Lebewohl Ihrem so lieben
Freunde Leo von seiner ihm innige zugethaner Freundin

L....

Geben Sie auf meine Fehler und Kritzelei nicht Acht
ich bin heute zu aufgeregt um daran gedacht zu haben.

Freitag Abend.

Nicolay ist eben zu Lados gefahren
und da setz ich mich denn zu meiner
nunmehr liebsten Beschäftigung wieder
hin. Sie lachen mich wohl nicht aus,
daß ich, kaum zwei Tage getrennt
schon die zweite Epistel Ihnen schrei-
be – als mein Freund fühlen Sie
es wohl auch daß es ein Bedürf-
niß ist sich schriftlich alles mitt-
zutheilen wenn man gewohnt
gewesen einander Alles zu sagen.
Ich will Ihnen also erzählen wie
ich meinen Tag bis soweit zu Ende
gekriegt: Nach einer unruhigen schlaf-
losen Nacht aufstruket erhob ich mich
um 8 aus den Federn wo nach
vollbrachter Toilette, mich mit sehr
melancholischer Laune nach Ihrem
Zimmer verfügte um den Schranck
in Ordnung zu bringen denn Nicolay
hatte ihn während meiner Abwe-
senheit stäuben laßen und waren
die Bücher daher in größter Unordnung
darauf begab ich mich zum Büreau
|6| (den ich richtig erobert hab) und ord-
nete meine vielen Briefe als Papie-
re die Liebsten aber behielt ich zum
Durchlesen indem es ungestört thun
konnte da ich den ganzen Morgen
allein war, sie trugen wohl dazu
bei mich noch wehmüthiger zu stimmen
doch war es nicht mehr das bittere
Gefühl des Alleinseins, im Gegentheil
schien es mir dochtillagt als ob mein lieber
Freund wie so oft auch jetzt mir
gegenüber am Tische geseßen hätte
und seiner aufmercksahmen Zuhörerin
vorlas, doch ein Augenblick – und
die Illusion zeeren – um der nack-
ten Wahrheit Platz zu machen,
ich ward wieder so traurig und, um
mich zu zerstreuen ging ich spat-
zieren, wo mir Nicolay entgegen
kam und mit mir weiter ging, ich
war ihm dafür danckbar, denn
er wollte mich meinen Gedancken
entreißen welches ihm auch gelang –
ich müßte ihm überhaupt erkenntlich
sein denn er sieht meine Trauer und
|7| und sucht sie durch LiebesBezeugungen
zu verjagen, mich ängstigen
aber Dieselben denn – sie arten im-
mer aus – daher auch meine süße
Maiko immer um mich ist und
im wahren Sinne des Wortes
der SchutsEngel ihrer Mutter ist.
Das liebe Kind ist wieder unwohl, sie
hat einen starcken Husten und ist
sehr heiser, und bleib ich daher wohl
am Sonntag zu Hause während N:
nach Saarela fährt um Pocku abzu-
holen dann benutze ich meine Frei-
heit um Ihren mit Ungeduld er-
warteten Brief zu beantworten
denn hoffentlich bringt uns morgen
die Post Einen. Das Wort Freiheit
ist diesmal nicht an seinem Platz
dennstruket N: scheint nichtstillagt gegen unsere Corres-
pondence zu haben denn er ver-
mißt Sie selbst so sehr daß bei Er-
wähnung Ihres Nahmens ihn die Träh-
nen in die Augen kommen, daher
muß er es wohl natürlich finden wenn
wir durch häufiges Schreiben einander
die Trennung zu erleichtern suchen.

Heute Nachmittag war Alexandra mit
Pocku hier wir saßen in Ihrem Zimmer
und wich Pocku nicht von meiner
Seite, er fühlte wohl daß sein lieber Leh-
rer ihm fehlte, denn mehrmahls warf
er sich mir um den Hals und verbarg
die trähnenden Augen, er versprach am
Montag ganz fleißig mit dem lernen
wieder anzufangen und will ich seine
Bücher ein wenig durchsehen um nicht
als gar zu dumme Lehrerin aufzutreten.
Nun wüßte ich Ihnen auch nichts mehr
zu beichten ausgenommen – daß ich mei-
nen theuren einzigen Freund auf je-
dem Schritte vermiße und daher auch mit
fieberhafter Ungeduld einen Brief erwarte.
Daß auch Sie oft Ihrer Freundin sich errinnern
bin ich überzeugt und hoffe daher daß Sie
meinem Wunsche nachkommen.–.
Beim Empfange dieser Zeilen werden Sie
mit den lieben Ihrigen wohl schon den
heiligen Act begangen haben, möchte Derselbe
Ihnen liebster Freund die Ruhe und den Frieden
gebracht haben die jeder Mensch beim Begehen
Deßelben hofft! Und nun Leben Sie wohl meine
geliebter Freund schreiben Sie aufrichtig und wahr
wie Ihnen zu Muthe ist Gott gebe daß Ihre stür-
mischen Gefühle sich gelegt hätten. Dieses wünscht von Herzen